Ursula Bonnekoh

Zeiten des Endes:
Selbstbestimmtes Sterben versus Ruf aus dem Jenseits

Vortrag im Rahmen der Jahrestagung 2024 der DGfZP „Zeitlichkeiten am Lebensende“

Lassen Sie mich vorab ein Wort zum „Ruf aus dem Jenseits“ sagen. Ich verstehe ihn so, dass in den meisten Fällen die Menschen den Zeitpunkt ihres Todes nicht kennen. Sie sterben an einer Krankheit oder im hohen Lebensalter, was man als „natürlichen Tod“ bezeichnet. Wenn der Tod einen Menschen unerwartet und über­raschend bei einem Unfall oder Unglück ereilt, spricht man von einem „un­natürlichen Tod“. Im Gegensatz dazu ist den Menschen, die sich für eine Suizidhilfe entscheiden, der Zeitpunkt ihres Todes bekannt oder sie haben ihn sogar selbst gewählt.

Paradigmenwechsel durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Zunächst möchte ich auf das Urteil des Bundesver­fassungsgerichts eingehen, das den rechtlichen Rahmen für die Suizidhilfe in Deutschland definiert. Im zweiten Teil befasse ich mich mit Menschen, die ihren Tod in die Hand genommen haben, also den Zeitpunkt ihres Todes kannten oder den Zeitpunkt sogar selbst gewählt haben.
Von 1871 bis 2015 war die assistierte Selbsttötung in Deutschland legal. Erst ab Dezember 2015 wurde die „geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung“ durch den
Paragrafen 217 Strafgesetzbuch verboten. Damals wie heute wird „geschäftsmäßig“ oft so verstanden, als sei eine Tätigkeit geschäftsmäßig, wenn sie gegen ein Entgelt ausgeführt wird. Dies ist falsch. Gemäß der juristischen Definition ist eine „geschäftsmäßige“ Tätigkeit auf Wiederholung ausgerichtet. Das Verbot zielte darauf ab, die professionelle Suizidhilfe durch Ärzt:innen und Sterbehilfevereine zu kriminalisieren. Angehörige und Nahestehende, die nicht geschäfts­mäßig handeln, blieben jedoch straffrei. Gegen dieses Gesetz wurden dreizehn Verfassungsklagen eingereicht. Seit dem 26. 2. 2020 ist die Hilfe beim Suizid wieder erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Dieses bahnbrechende Urteil war ein Paradigmenwechsel und führte zu heftigen Reaktionen. Das Gericht stellte fest, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Alle Bürger:innen haben das Recht, über ihr Leben zu verfügen und ihm ein Ende zu setzen. Weiter haben sie das Recht, dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn diese angeboten wird. Damit wurde auch das Recht von Ärzt:innen wiederhergestellt, nach ihrem beruflichen Gewissen zu handeln und Hilfe beim Suizid zu leisten, wenn sie dazu bereit sind. Dieses Recht unterliegt keinerlei Beschränkungen hinsichtlich bestimmter Krankheiten oder des Lebensalters.
In seiner Presseerklärung vom 26. 02. 2020 äußerte sich das Bundesverfassungsgericht dazu: „Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Dieses Urteil hindert niemanden daran, seinen individuellen Wertvorstellungen zu folgen, den natürlichen Verlauf der Krankheit anzunehmen und zur Symptomlinderung Palliativmedizin in Anspruch zu nehmen. Einen natür­lichen Tod zu sterben, dessen Zeitpunkt nicht willkürlich gewählt wurde, entspricht dem „Ruf aus dem Jenseits“.
Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ab und bringt es in Verbindung mit der Menschenwürde. Für den Gesetzgeber ergibt sich daraus die Verpflichtung, jede Gesetzgebung so zu gestalten, dass sie der Vielfalt der Würdedefinitionen der Bürger:innen Rechnung trägt und diese nicht einer für alle verbindlichen Würdedefinition durch den Staat unterwirft.
Um die Besonderheit dieses Ansatzes zu veranschaulichen, soll ein kurzer Blick auf die Gesetzgebung anderer Länder geworfen werden. Beispielsweise sind dies die Niederlande, Italien, Neuseeland, Australien, Kanada oder Spanien. In all diesen Ländern ist Sterbehilfe erlaubt. Die Begründung für diese Erlaubnis ist, dass man aus Mitgefühl schweres Leiden beenden möchte. So ist es nachvollziehbar, dass die Erlaubnis auf Schwerkranke beschränkt ist und ein medizinisches, medikalisiertes Modell Anwendung findet.
In Deutschland dagegen beruht die Rechtfertigung für die Sterbehilfe auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde. Dies entspricht dem Menschenbild des Grundgesetzes. „Der Verfassungsordnung des Grundgesetzes liegt ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. Dieses Menschenbild hat Ausgangspunkt jedes regulatorischen Ansatzes zu sein.“ (Urteil BVerfG, Rn 274.) Im Gegensatz zu den medikalisierten Modellen in anderen Ländern hat Deutschland ein menschenrechtliches Modell.
Die Suizidhilfe ist nur zulässig, wenn die Entscheidung freiverantwortlich getroffen wurde. Wie hat das BVerfG „Freiverantwortlichkeit“ definiert? Die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit muss vorhanden sein. Die Entscheidung muss wohlerwogen, nachhaltig und dauerhaft sein und darf nicht im Affekt getroffen werden. Die sterbewillige Person ist über mögliche Alternativen informiert und hat diese abgewogen. Die Entscheidung zu sterben wurde ohne Druck durch Dritte getroffen. Die Tatherrschaft liegt bei der sterbewilligen Person, die den letzten Schritt selbst durchführen muss. Andernfalls läge eine aktive Sterbehilfe vor, die in Deutschland strafbar ist.

Geschichten von Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch genommen haben

Wir wenden uns nun den Personen zu, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. Einige haben den genauen Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmt, andere haben ihn mit ihren Angehörigen, Freund:innen und Freitodhelfenden abgestimmt. Im Folgenden werden einige Personen und ihre Geschichten vorgestellt. Ralf Bladt, Laura Henkel und Frau W. haben die Möglichkeit einer Suizidhilfe in Anspruch genommen, in unterschiedlichen Ländern und auf ihre eigene Art und Weise.

Ralf Bladt starb mit Unterstützung eines Arztes, der ihm von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) vermittelt worden war. Seine Frau Petra berichtete über den Tod ihres Mannes in der Irish Times vom 27. Januar 2024. Die Bestatterin berichtet auf ihrer Internetseite von dem Moment, als Ralf Bladt ihr im Anschluss an ein Gespräch zur Bestattungsvorsorge von seinem Plan erzählte, sein Leben zu beenden. „Ich durfte Ralf noch kennenlernen, um gemeinsam mit ihm seine Bestattungsvorsorge zu besprechen. Er saß mir lächelnd gegenüber und erzählte mir, dass er am 3. Februar 2022 sterben würde. Und er sagte mir, dass er sich darauf freut. … Mir wurde ganz anders. Die Tränen sind mir in die Augen geschossen. Ralf, der unheilbar krank war, hatte seine Entscheidung getroffen und sie mit seinen Liebsten besprochen. Er wusste ganz genau, wie oft er noch die Treppe rauf und runter musste. Es waren 18-mal – und er wusste die Stunden, bis es so weit sein würde.“

Die Australierin Laura Henkel reiste in die Schweiz, um ihr Leben zu beenden. Sie erfüllte die Bedingungen des australischen Gesetzes nicht, das Sterbehilfe nur schwer kranken Menschen mit einer Lebenserwartung von maximal 6 Monaten erlaubt. Laura Henkel war nicht schwer krank. Sie wollte ihr Leben beenden, weil sie ein hohes Alter erreicht hatte. Sie fühlte eine zunehmende Schwäche und wollte einem langsamen und langen Siechtum durch einen selbstbestimmten Tod zuvorkommen. Dafür wählte sie den weiten Weg zu einer Schweizer Sterbe­hilfe-Organisation. Nach einer gründlichen Vor­prüfung war diese bereit, ihr eine Hilfe beim Suizid zu ermöglichen. Auf ihrem Weg wurde sie von ihrer Tochter Cathy Henkel und ihrer Enkelin Sam Lara begleitet. Beide sind Filmemacherinnen und haben Lauras letzte Reise in der Dokumentation Laura’s Choice festgehalten. Das Video ist inzwischen auf YouTube verfügbar. Bilder und weitere Informationen findet man auf der Internetseite lauraschoice.org. Dort sieht man die Begleitung durch Tochter und Enkelin und wie die Angehörigen sich nach Lauras Tod verabschieden können, bevor die polizeiliche Untersuchung stattfindet, die auch in der Schweiz obligatorisch ist.

Auch Frau W. starb im hohen Alter mithilfe eines Arztes, der ihr durch die DGHS vermittelt worden war. Frau W. war ebenfalls nicht schwer krank, aber hochaltrig und lebenssatt. Ihre Tochter schildert in einer E-Mail, wie Menschen mit sich und dem Leben versöhnt sterben können, wenn sie selbst den Zeitpunkt wählen. „Wir werden wohl nie vergessen, wie unsere Mutter mit einem Lächeln starb.“

Ich möchte Ihnen nun zwei Beispiele von Menschen vorstellen, die sowohl den Tag als auch die Stunde ihrer Lebensbeendigung ganz bewusst gewählt haben. Es sind dies Käthe Nebel und Brittany Maynard.

„Heute ist mein letzter Tag und das ist gut so.“ So begrüßte Käthe Nebel ihre Freundin am Tag ihrer Freitodbegleitung. Den Tag hatte sie selbst bestimmt und einen Samstagnachmittag als Zeitpunkt für ihr Sterben gewählt. Mithilfe der Sterbehilfe-Organisation DIGNITAS Deutschland e. V. hatte Käthe Nebel ihren Freitod organisiert. Frau Nebel war eine bekannte Aktivistin in Oldenburg und bereits seit vielen Jahren im Einsatz. In jungen Jahren engagierte sie sich bei Protesten gegen Atomenergie in Gorleben. Später widmete sie sich mit derselben Entschlossenheit dem Kampf für das selbstbestimmte Sterben. So organisierte sie im hohen Alter eine Kundgebung in Oldenburg, aus der der „Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben“ hervorging, der sich seitdem kontinuierlich vergrößert. In den Tagen vor ihrer Freitodbegleitung und am Tag selbst kamen viele Freundinnen und Freunde vorbei, um sich von ihr zu verabschieden. Käthe Nebel starb an dem Samstagnachmittag, den sie selbst festgelegt hatte, umgeben von vielen Menschen, die sie auf ihrem Lebensweg begleitet hatten.

Brittany Maynard wurde im Alter von 29 Jahren mit der Diagnose Glioblastom, einem sehr aggressiven und bösartigen Hirntumor, konfrontiert. Nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass es keine Aussicht auf Heilung gebe, verzichtete sie auf Operationen, die ihr Leben nicht hätten retten können. Stattdessen entschied sie sich für den Umzug von Kalifornien nach Oregon, da sie dort die Möglichkeit hatte, ein Mittel zum Suizid zu erhalten. Ihre Familie, Ehemann, Mutter und Stiefvater, folgten ihr nach Oregon, wo sie am 1. November 2014 das Mittel einnahm, das ihr einen friedlichen und selbstbestimmten Tod ermöglichte.
In Oregon besteht die Möglichkeit der Sterbehilfe seit dem 27. Oktober 1997, als der „Death with Dignity Act“ in Kraft trat. Gemäß diesem Gesetz haben unheilbar kranke Personen, deren Lebenserwartung auf sechs Monate begrenzt ist, die Möglichkeit, ihr Leben durch die freiwillige Einnahme von tödlichen Medikamenten zu beenden. Diese Medikamente werden von einem Arzt speziell zu diesem Zweck verschrieben. Brittany Maynard hat wieder­holt betont, dass sie nicht suizidal sei. Sie würde sehr gerne gemeinsam mit ihrem Mann eine Familie gründen und gemeinsam alt werden. Ihre Erkrankung habe ihr diese Option jedoch genommen. Sie würde bald sterben. Es gehe nicht um die Frage, ob sie leben oder sterben wolle. Vielmehr gehe es darum, die Art und Weise und den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen. Sie habe sich dafür entschieden, die Krankheit nicht bis zum bitteren Ende zu ertragen, sondern ihr Leiden abzukürzen und ihr Leben zu beenden, bevor es für sie nicht mehr lebenswert sein würde.
Vor ihrem Tod setzte sich Brittany Meinhard für das Recht auf Suizidhilfe in weiteren US-Staaten ein. Sie gründete einen Verein und richtete einen YouTube-Kanal ein, über den sie ihre Botschaft der Welt mitteilte. „My dream is that every terminally ill American has access to the choice to die on their own terms with dignity. Please take an active role to make this a reality.“ Nach ihrem Tod wurden in weiteren US-Staaten, auch in ihrem Heimatstaat Kalifornien, Gesetze erlassen, die dem Modell in Oregon ähneln. Auch wenn sich hierzulande einige Gruppen eine ähnlich begrenzte Regelung wie in Oregon für Deutschland wünschen, ist dies nicht möglich. Eine Regelung wie in Oregon wäre in Deutschland verfassungswidrig.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Geschichten dieser Menschen zeigen, wie wichtig das Recht auf einen selbstbestimmten Tod für viele ist. Sie haben ihren letzten Weg mutig und entschlossen gewählt und dabei ihre Würde bewahrt. Ihre Erfahrungen und die Unterstützung durch ihre Angehörigen, Ärzt:innen und Sterbehilfe-Organisationen verdeutlichen, dass ein selbstbestimmter Tod eine persönliche Entscheidung ist, die gesellschaftlich respektiert und nicht behindert werden sollte. Diese Beispiele appellieren an uns, die Diskussion über Sterbehilfe offen und einfühlsam zu führen und den vom Bundesverfassungsgericht festgelegten rechtlichen Rahmen nicht unnötig einzuschränken.

Ursula Bonnekoh,
Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft
für Humanes Sterben e.V.

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