
Karin Jurczyk
Zeiterfahrungen und Zeitpolitik in Japan
Eindrücke einer zu kurzen Reise
Dieser Bericht basiert auf Alltagseindrücken während einer vierwöchigen Reise nach Japan im Herbst 2024 sowie auf einer Vortragserfahrung zu Care, Gender und Zeitpolitik an einer Tokyoter Universität, anschließenden Gesprächen mit Kolleginnen an den Universitäten Hiroshima, Kyoto und Osaka und einigen Nachrecherchen. Ich habe nur an der Oberfläche kratzen können beim Bemühen, diese fremde Gesellschaft zu verstehen, meine Eindrücke sind höchst subjektiv und ich bin mit mehr Fragen zurückgekommen, als ich losgefahren bin. Deshalb gilt auch für diesen Bericht der Hinweis von Kurt Levine: „Wenn wir einen kulturellen Kontext nicht vollständig verstehen, missdeuten wir leicht die Motive der Menschen“ (siehe Schroeder in diesem Heft).
Ich beginne mit den Alltagsbeobachtungen von Zeit in Japan. Zunächst zum Tempo im öffentlichen Raum – vor allem dem städtischen Raum in Tokyo, Osaka, Kyoto, Okayama, Kobe und Hiroshima. Menschen bewegen sich schnell, zügig und stets zielgerichtet, es gibt keine Flaneure (zumindest werktags). Und dennoch: Gehetzt wird nicht, man ist nicht hektisch, nicht aggressiv. Niemand rempelt den anderen an, es gibt Hinweise auch in den vollen Shopping Malls, sich möglichst nicht zu berühren. An den Rolltreppen der großen Bahnhöfe stehen Hinweise, man möge sich auch auf der Rolltreppe nicht überholen, weder links noch rechts. In den Bahnhöfen liest man „don’t rush“-Schilder, die dazu auffordern, sich genügend Zeit für alle Wege zu nehmen. Pünktlichkeit ist dabei ein sehr hoher Wert, nicht nur bei den Abfahrtszeiten der Züge, sondern auch im sozialen Miteinander. Dies führt tatsächlich dazu, dass man sich bereits vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt einfindet. Ich wurde jedenfalls, auch wenn ich pünktlich war, stets schon empfangen! Es führt auch dazu, Wege- und Wartezeiten sehr großzügig zu planen, damit ja keine Hetze aufkommt – ein mir äußerst fremdes Verhalten, das ich in Deutschland eigentlich nur von wenigen, meist alten oder bewegungseingeschränkten Menschen kenne. So war auch ich – wegen meiner japanischen Begleitung – ca. zwei Stunden vor Beginn meines Vortrags an der Uni. Durch all dies ist der Takt im öffentlichen Raum trotz Zügigkeit und Fülle ruhig und wenig stressig. Das zeigt sich auch an den überaus langen Warteschlangen etwa an Bushaltestellen, wo nicht nur niemand drängelt, sondern auch nach einem langen Arbeitstag die Menschen geduldig und ruhig hintereinander (und nicht nebeneinander, geschweige denn ungeordnet!) in langen Reihen warten, bis sie einsteigen dürfen. Unter anderem dieses höfliche, freundliche und disziplinierte Verhalten machte den Aufenthalt in Japan so angenehm!
Damit komme ich, es geht nicht anders, zur Pünktlichkeit der Züge, ja auch der Busse auf dem Land. Sie fahren wirklich auf die Sekunde genau, und bereits ab zwei Minuten Verspätung gibt es eine offizielle Entschuldigung über Lautsprecher. Nur zwei Ausnahmen haben wir erlebt: Aufgrund eines Taifun-Ausläufers mit Starkregen und Überschwemmungen hatten sogar die Shinkansen-Züge 70 Minuten Verspätung. Der Takt war durcheinander, aber das wurde ganz ruhig hingenommen (Naturkatastrophe!), keine Aufregung, kein Gebrüll. Die Pünktlichkeit der Verkehrsmittel ist auch möglich durch die sehr sichtbare Verknüpfung der Zeit- mit der Raumdimension, begleitet von der Höflichkeit der Menschen. Auf den Bahnsteigen gibt es deutlich aufgezeichnete Spuren für den Aus- und Einstieg, an den Sicherheitsbarrieren der Shinkansen sind genau die Wagen- und Sitzplatznummern zu lesen. In die meisten Wagen darf man nur mit Sitzplatzreservierung einsteigen – aber die stimmt dann auch (von wegen „Achtung: geänderte Wagenreihung…“). Man positioniert sich zeitig und entsprechend präzise – und der Fahrplan kommt nicht aus dem Takt, man verliert keine Minute beim Ein- und Ausstieg. In den großen Start- und Endbahnhöfen sieht das dann so aus: Der Shinkansen fährt ein, Passagiere steigen aus – der Zug wird für max. 10 Minuten wieder geschlossen, damit das Putzpersonal, das schon wartend am Zug steht, durch den Zug geht und in Windeseile seine Arbeit erledigt. Erst dann darf wieder eingestiegen werden. Der Einstieg ist ebenerdig, ohne Treppenstufen.
Falls eine Person mit Rollstuhl den Zug nutzen will, ist für die Assistenz bereits eine dafür zuständige Person exakt zur Stelle – wie durch Zauberhand geordert. Dass die Shinkansen sehr schnell fahren, über 300 kmh, muss ich nicht betonen – den schnellsten, den Nozomi, haben wir gar nicht benutzt, auch deshalb, weil man dann von der Landschaft nichts mehr sieht. Eine zweite Ausnahme bei der Pünktlichkeit ist zu erwähnen. Wir warteten in Kushimoto am Südzipfel der Kii-Halbinsel auf den Bus, der uns zum Bahnhof bringen sollte. Ein kleiner Bus kam, leicht verspätet. Eine junge Frau in Wanderkleidung steigt ein, sie kennt sich offenbar nicht aus. Obgleich sie japanisch aussieht, nutzt sie einen Sprachcomputer, um ihre vielen Fragen zu stellen. In aller Ruhe und mit unbewegtem Gesicht bringt sie ihre Anliegen vor – obwohl sie schließlich wie wir auch nur die acht Minuten zum Bahnhof fährt. Der Busfahrer nimmt sich ihrer mit Ernst an und antwortet voller Geduld. Wir werden langsam nervös, weil wir den Zug nicht verpassen wollen. Aber es wäre absolut unhöflich und damit unmöglich, zu drängeln und auf unseren Zeitdruck zu verweisen. Das tut man nicht, man bleibt geduldig, ruhig und freundlich – eine solche Zurückhaltung wäre wohl undenkbar in Deutschland. In den städtischen Bussen steigt man immer in der Mitte ein und vorne aus – der Hintergrund: vorne beim Fahrer zeigt man erst beim Ausstieg die Fahrkarte oder zahlt. Dies funktioniert auch in sehr vollen Bussen. Niemand springt aus der Mitteltür wieder heraus, ohne zu zahlen, alle warten, bis auch der hinterste Fahrgast sich zum Fahrer nach vorne geschoben und gezahlt hat. Der auffällige Gegensatz der Zeiterfahrung beim Tempo ist die Gleichzeitigkeit von Ruhe und Geschwindigkeit, die friedlich nebeneinander existieren und zu großer Effektivität der Fortbewegung führen.
Und schließlich ein kurzer Blick auf die Öffnungszeiten: Erstaunlich ist selbst in den großen Städten, wie früh viele Geschäfte schließen und das Nachtleben endet. Bestimmt gibt es große Kaufhäuser, Restaurants und Pubs, die sehr lange offen haben. Aber der übliche Rhythmus ist anders. Insbesondere auf dem Land – etwa in Yamanakako in der Fuji-Region und auf der kleinen Insel Teshima – machen spätestens zwischen 18 und 19 Uhr die wenigen Kneipen zu. Alles wird dunkel, stockdunkel, die Dörfer wirken ohnehin verlassen. Wenn man nicht rechtzeitig irgendwo etwas gegessen hat, kann man jedoch auf die zahlreichen, bunt und vielfältig ausgestatteten Automaten zurückgreifen, in denen es auch heiße Suppe und Fertiggerichte gibt. Die Menschen stehen aber sehr früh auf, es ist ein Land für Lerchen. Jenseits der großen Städte ließe sich viel erzählen über die – aufgrund des Geburtenrückgangs und der Landflucht der jungen Leute – immer leerer werdenden ländlichen Räume, die deprimierend wirken durch ihre Dorfstraßen mit herunter gelassenen Rollläden und leeren Häusern, den „shutter dori“. Die Verödung ländlicher Regionen verstärkt vermutlich das hier besonders langsame Lebenstempo. Ab und an sieht man alte Menschen (viele Frauen!), wie sie ihre kleinen Gärten bewirtschaften; sie wirken, gebückt arbeitend mit ihren großen Hüten, wie aus einer vergangenen Zeit. Welch krasser Gegensatz zu den vierstöckigen Gaming Halls in den großen Städten, in denen vorzugsweise junge Menschen (Männer!) in unglaublicher Geschwindigkeit und extremem Takt auf diverse Spielautomaten einschlagen, um Punkte zu sammeln – sinnlos, bis zur Erschöpfung.
Allein die Möglichkeit, die große Ruhe der Steingärten in harmonisch angelegten Tempelanlagen zu genießen und 10 Minuten später, quasi daneben, in eine der quirligen Shopping Malls einzutauchen, oder 1000 Jahre alte japanische Zedern zu bewundern und anschließend an kurzlebigen, wackeligen Hausbauten vorbeizugehen, ermöglicht äußerst gegensätzliche Zeiterfahrungen. Damit decken sich meine Eindrücke mit der Aussage von Kurt Levine, der in seiner LANDKARTE DER ZEIT 1998 die „Widersprüchlichkeit Japans“ konstatiert (siehe Artikel Schroeder). Er äußert sich (selbst)kritisch zu vereinfachenden Kulturtypologien, die Homogenität unterstellen – dies umso mehr, als auch Japan eine Gesellschaft im Wandel sei.

Damit nun zu meinem Vortrag, in dem es u. a.um Zeitpolitik ging, im Publikum saßen junge Studierende (zur Hälfte aus China!) und eine Anzahl von Professor:innen. Großspurig formuliert: Ich wollte die Zeitpolitik nach Japan bringen. Das ist wohl gründlich schief gegangen. Aber: Ich habe viel gelernt. Vor allem bin ich mit der auch für die DGfZP zentralen Frage zurückgekommen, ob unsere deutschen bzw. westeuropäischen Ideen von Zeitpolitik universell und für andere Teile der Welt überhaupt relevant sind. Es ist zeitsoziologischer Common Sense, dass Zeit keine universelle, objektive Größe ist, sondern sozio-kulturell geprägt und subjektiv erlebt wird. Aber gilt eine solche Kontextualisierung nicht ebenso sehr für Zeitpolitik?
Das Thema Zeitpolitik war im Vortragstitel etwas verborgen. Er lautete “No Society without Care – Ways Out of the Care Crisis” – vorgeschlagen habe ich die Zeitpolitik als einen der Lösungswege aus der Care-Krise und dies am Beispiel des Optionszeitenmodells (siehe Bericht Jurczyk in diesem Heft) konkretisiert. Mit guten Gründen bin ich davon ausgegangen, dass die japanische und die deutsche Gesellschaft sich in einer Care-Krise befinden, denn sie teilen viele Probleme, die teilweise in Japan sogar noch drastischer sind: eine sehr niedrige Geburtenrate, eine sehr alte Bevölkerung1 , verdichtete Erwerbsarbeit, wachsender Bedarf an erwerbstätigen Frauen und Müttern aufgrund des Fachkräftemangels bei überwiegend traditionellen Geschlechter- und Familienkonzepten und unzureichenden Betreuungseinrichtungen vor allem für alte Menschen. All dies hat zunehmenden Zeitdruck zur Folge. Empirisch unabweisbar ist schon auf den ersten Blick, dass sehr viele Menschen in Japan müde und erschöpft wirken, vor allem die Männer aufgrund ihrer überlangen Arbeitszeiten. In den öffentlichen Verkehrsmitteln schläft die Hälfte der Fahrgäste auch am helllichten Tag, viele Gesichter sind müde, zudem ist die Selbstmordrate der Bevölkerung sehr hoch, Einsamkeit und Isolation sind ein großes Problem, insbesondere für ältere Menschen, aber auch junge Menschen (Männer!) ziehen sich vermehrt zurück und verkriechen sich in ihren Zimmern (das „Hikikomori“-Phänomen, siehe Zielenziger 2006). Die Krise von Care und Self-Care ist also offensichtlich.
Zu Unrecht habe ich jedoch vorausgesetzt, dass vor diesem Hintergrund ein Drehen an der Schraube (Arbeits-)Zeitpolitik in Richtung selbstbestimmter Flexibilität für beide Geschlechter als Lösungsweg gesehen werden könnte, dem mit Offenheit begegnet wird. Dies liegt weniger daran, dass es nicht auch in Japan Bestrebungen hin zu mehr Gleichstellung gäbe und nicht auch hier traditionelle Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse erodieren (s. u.). Frauen bekommen auch deshalb so wenig Kinder, weil sie nicht mehr den passenden Partner finden und nicht mehr bereit sind, tradierten Rollenerwartungen zu entsprechen. Die Total Fertility Rate liegt in Japan im Jahr 2024 mit 1,15 Kindern pro Frau auf dem niedrigsten Stand der Statistikgeschichte. Im Stadtbild wird sichtbar, dass die Alternative zum Kind oft ein Haustier ist, vorzugsweise ein kleiner kuscheliger Hund (www.tagesschau.de/ausland/asien/japan-haustiermesse-101.html), was mit den oft sehr beengten Wohnverhältnissen zu tun hat.
Das Problem ist vielmehr, dass allein die Idee der Zeitsouveränität ein kulturelles No-Go zu sein scheint. Ich hatte – für mich selbstverständlich – bei der Skizzierung des Optionszeitenmodells auf das „Recht auf Zeit“, auf individuelle Zeitsouveränität und eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie hingewiesen ebenso wie auf Zeitwohlstand als gesellschaftspolitischer Wohlstandsdimension. Wie sehr diese unsere Vorstellung der Voraussetzungen von expliziter Zeitpolitik jedoch geprägt, ja abhängig ist vom westlichen Konzept des Individualismus, der Partizipation und von Governance als neuer Politikform, habe ich erst in Japan verstanden. Japan ist eine sehr konformbedachte Gesellschaft, in der man nicht „aus der Reihe tanzt“, sondern möglichst leise, freundlich und unauffällig den vorgegebenen Werten und Normen folgt, die weitgehend unhinterfragt akzeptiert werden. Man will nicht auffallen: Es geht nicht um das Eigene und nicht um den und die Einzelne/n, es geht um ein möglichst reibungsloses Funktionieren im gesellschaftlichen Räderwerk. Es herrscht ein großer Gruppendruck in Japan, der ambivalent ist: einerseits ist dieser in Notsituationen wie den zahlreichen Naturkatastrophen sehr hilfreich, es gibt gelebte Solidarität, aber andererseits kann man sich dem subtilen allgegenwärtigen Konformitätsdruck nur schwer entziehen. Er wird vom ersten Tag an vermittelt, er ist inkorporiert, selbst Kleinkinder sind viel stiller als bei uns und toben nicht einfach herum. Individualität, ein selbstbestimmtes eigenes Leben, so wurde ich in der Diskussion belehrt, sei kein Wert, an dem man sich orientiere – weder in der Erwerbsarbeit, der Öffentlichkeit, der Familie noch der Freizeit. Gleichwohl: Wenn Menschen wirklich ganz „für sich“ seien, in der „wirklichen“ Freizeit jenseits dieser Sphären (ein interessantes Freizeitkonzept!), gäbe es eine Individualität, so fremdartig und sonderbar, wie wir sie uns gar nicht vorstellen könnten. Das war ein eher mysteriöser Hinweis, aber wer sich etwas in die japanische Literatur (etwa von Haruki Murakami mit KAFKA AM STRAND oder Yoko Ogawa mit INSEL DER VERLORENEN ERINNERUNG) eingelesen hat, ahnt, in welche Richtung das gehen könnte. Jedenfalls ist mir die soziokulturelle Gebundenheit unseres Konzepts von Zeitpolitik an westliche Werte nie so deutlich geworden wie durch den fremden Blick. Der Mensch als Souverän seiner Zeit, diese Idee wurde nicht verstanden und war nicht vermittelbar.
Daran ändert auch nichts, dass es auch und gerade in Japan strenge Zeitregime und Taktgeber gibt, die implizite Zeitpolitik betreiben, wie etwa bei der Mobilität und der Arbeitszeit. Aber diese werden nicht als gestaltbar durch ein Staatsbürger:innenrecht auf „eigene Zeit“ wahrgenommen, auch nicht durch partizipative Politikformen etwa für besser koordinierte „Zeiten der Stadt“. Die Idee der expliziten, am Individuum orientierten Zeitpolitik hat – zumindest vor meinem Publikum – eher Befremden hervorgerufen, denn die herrschenden Zeitregime sind fest internalisiert und vor allem akzeptiert.
Und dennoch: meine nachfolgenden Gespräche und Recherchen haben einige Hinweise auf Umbrüche in Japan gegeben, auf neue Gegensätze, mit denen sich vielleicht auch die Tür für eine neue Zeitpolitik öffnet. Dies hat im Wesentlichen mit sich ändernden Geschlechterverhältnissen, eng verknüpft mit niedrigen Geburtenraten und veränderten Arbeitsmärkten, zu tun. So gibt es neben tradierten Geschlechterkonzepten, die nach wie vor von vielen Männern und auch Frauen geteilt werden, einen aktiven Feminismus (Germer/Wöhr 2025). Vergleichende Studien in Ostasien verweisen auf sich ändernde private Lebensformen (siehe sase.org/people/emiko-ochiai/). Emiko Ochiai beschrieb im Gespräch die Geschlechterverhältnisse der jüngeren Generation folgendermaßen: Junge Frauen wie Männer nennen als wichtigstes Thema Sex und Begehren, sie leben das auch aus. Im Anschluss folgt eine eher diffuse Phase der Partner:innensuche, die aber oft nicht gelingt oder nur halbherzig betrieben wird, ebenso wie die Umsetzung von Kinderwünschen, die vielleicht gar nicht stark ausgeprägt sind und an vielem scheitern. Eher die Gutverdienenden können sich Kinder leisten, diese fungieren dann als Statussymbol und werden hergezeigt und hergerichtet. An diese durch Partnersuche, Ehe und eventuell Kinder geprägte Lebensphase schließt sich jedoch nicht wie in Deutschland die Idee einer möglichst dauerhaften romantischen Liebesgemeinschaft an, sondern die einer Zweckgemeinschaft oder Freundschaft. In der Folge gibt es viele Alleinlebende, auf dem Land verödete Dörfer, in den Städten viele Vereinsamte.
Der weit verbreitete „Partnerschafts- und Heiratspessimismus“ ist bedingt durch unsichere Arbeitsverhältnisse und niedriges Einkommen bei stetig steigenden Lebenshaltungskosten. Insbesondere Frauen haben Bedenken: Eine Ehe könnte einen Verlust von Freiheit, eine Einschränkung des Lebensstils sowie das Hineingezwungenwerden in als veraltet betrachtete Hausfrauenrollen bedeuten (sumikai.com/nachrichten-aus-japan/warum-in-japan-so-viele-menschen-allein-leben-369261/). Deshalb brauchen Frauen, die erwerbstätig sein wollen oder müssen (und dies nicht länger nur in Teilzeit), ebenso wie die wachsende Zahl gut ausgebildeter und gut verdienender Frauen sowie insbesondere Alleinerziehende, neue Zeitpolitiken. Und zunehmend wünschen sich auch junge Männer gleichberechtigtere Arbeits- und Lebensformen.
Was geschieht nun in Wirtschaft und Politik? Meine Gesprächspartnerin Akiyo Uozumi (www.jiu.ac.jp/eng/graduate/human/faculty/detail/id=14264) berichtet von ihren Schulungen in Unternehmen, die Zeitpolitik als nicht unmöglich, aber als sehr schwer umsetzbar sehen. So ein Modell wie das Optionszeitenmodell sei ein „Traum“. Als beispielhaft für einen zeitpolitischen Aufbruch kann jedoch die Gesetzgebung zur Elternzeit gelten. Seit 1992 haben auch Väter in Japan das Recht, Elternzeit zu beantragen, die Inanspruchnahme war jedoch bis vor kurzem sehr gering (1,89 % im Jahr 2012). Die japanische Regierung hat mit der Reform des Elternzeitgesetzes im Oktober 2022 Maßnahmen ergriffen, um die Beteiligung von Vätern an der Elternzeit zu erhöhen, einschließlich finanzieller Anreize und gesetzlicher Anpassungen (Tsukamoto 2023). Die maximale Dauer der Elternzeit in Japan beträgt derzeit 14 Monate, einschließlich zwei Monaten Bonusurlaub, wenn sich die Eltern den Urlaub teilen – ganz ähnlich also wie in Deutschland. Dies gehört zu den längsten Regelungen weltweit. Bis zu 6 Monate ist der Erziehungsurlaub mit einem Gehalt von 67 % ihres Monatslohns bezahlt, nach dieser Zeit wird der Entgeltersatzanspruch auf 50 % reduziert.
Von der Elternzeit insgesamt zu unterscheiden ist der „Papa Ikuky“: Er ermöglicht Vätern, innerhalb von acht Wochen nach der Geburt ihres Kindes bis zu vier Wochen bezahlte Freistellung zusätzlich zur regulären Elternzeit zu nehmen. Er kann separat vom Erziehungsurlaub in zwei Phasen in Anspruch genommen werden. Laut der Grundlagenuntersuchung zur Gleichstellung der Beschäftigung (Website des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales) liegt die Erwerbsquote für Elternzeit 2024 bei Frauen 86,6 % (2023: 84,1 %) und bei Männern 40,5 % (2023: 30,1 %). Damit stieg die Quote zum zwölften Mal in Folge. Die Dauer der Elternzeitnutzung von Vätern ist jedoch nach wie vor sehr kurz: Von denen, die Elternzeit nahmen, beanspruchten 82,6 % die sogenannte „Papa-Ikuky“, also maximal 4 Wochen.
Auch werden – wie in Deutschland – Hindernisse für die Inanspruchnahme diskutiert: Dazu gehören Mobbing, Arbeitsplatzverlust, Karriereeinbußen. Als Problem, das im Zuge der Einführung von „Papa Iikukyu“ und der Förderung der Elternzeitnutzung häufig angeführt wurde, war die erhöhte Arbeitsbelastung für die Kolleg:innen. Man befürchtete, „typisch japanisch“, dass sich andere Angestellte ungerecht behandelt fühlen könnten – mit womöglich negativen Folgen für das Arbeitsklima. Als Lösung gibt es eine einmalige Zahlung an alle Kolleginnen im Betrieb! Aber auch anderes trübt die auf den ersten Blick so positiven Zahlen: Eine Umfrage ergab, dass 79,8 % der Väter ihre Elternzeit zwar aus eigenem Wunsch genommen haben, jedoch 53,6 % nicht wussten, wie sie diese Zeit sinnvoll nutzen sollten. Ein erheblicher Teil der Väter wird als „passiv“ eingestuft, was bedeutet, dass sie während ihrer Elternzeit nicht aktiv an der Kinderbetreuung mitwirken. Die Hausarbeit bleibt ganz bei den Frauen (sumikai.com/nachrichten-aus-japan/soziales-leben/immer-mehr-vaeter-in-japan-nehmen-elternzeit-360591/).
Die Zeitpolitik größerer Unternehmen springt der Politik jedoch zur Seite: Coca-Cola Japan etwa hat 100 % der Väter im Visier, sie müssen Väterurlaub nehmen. Und auch bei der neuen Gruppe der gutverdienenden Ehefrauen, bei denen von Seiten ihrer Ehemänner durchaus gewünscht ist, dass diese weiterarbeiten, wenn sie Kinder bekommen, greifen familienpolitische Maßnahmen der Firmen. Dies ist in Japan häufig wichtiger als gesetzliche Regulierungen.
Fazit: Gerade angesichts der beschriebenen Widersprüche und Aufbrüche wäre es sehr reizvoll, die Diskussion um Zeitpolitik in Japan fortzusetzen. Insbesondere wäre dabei zu prüfen, inwieweit die Idee eines „Rechts auf Zeit“ auch dort Fuß fassen kann.
Literatur
Andrea Germer, Ulrike Wöhr (eds.) (2025): Handbook of Feminisms in Japan. London: Routledge, DOI https://doi.org/10.4324/9781003697060
Tsukamoto, Sayako (2023): Wenn Papa beim Kind bleibt – Reform der Väterzeit in Japan. In Japanmarkt. Q3/2023, S. 32-33.
Zielenziger, Michael (2006): Shutting Out the Sun. How Japan Created Its Own Lost Generation. Doubleday Publishing.
Dr. Karin Jurczyk
Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik
- So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in Japan 2023 bei 85 Jahren (Männer: 82,1, Frauen 88,1). In Deutschland liegen die Werte dagegen bei 81,7 Jahren (Männer 79,4, Frauen bei 84,2) siehe Liste der Länder nach durchschnittlicher Lebenserwartung – Wikipedia (abgerufen am 21.1.2025). Die Zahl der Hundertjährigen ist weltweit besonders hoch. ↩︎
