Alois Moosmüller

E. T. Halls Theorie polychroner und monochroner Zeit revisited

Wie kam der Kulturanthropologe und Begründer der Interkulturellen Kommunikation zu dieser Theorie? Was bedeutet sie und wie ist sie aus heutiger Sicht einzuschätzen?

Der 19-jährige Hall, der gerade mit dem Studium der Archäologie begonnen hatte, beklagte die „weltfremde Theorielastigkeit“ an der Universität und unterbrach sein Studium für mehrere Jahre, um für den Indian Service, eine Regierungsbehörde, zu arbeiten. Seine Aufgabe bestand darin, in den Navajo- und Hopi-Reservaten gemeinsam mit den „Indians“ Straßen- und Dammbauprojekte voran­zubringen. Hall schreibt, wie er zuerst völlig irritiert und überfordert gewesen sei, mit den „Indians“ zurecht zu kommen. Alles sei anderen Rhythmen gefolgt, Zeitpläne hätten keine Bedeutung gehabt, wann und ob Ziele erreicht werden könnten, sei völlig unklar gewesen. Die Untätigkeit und seine Ungeduld seien unerträglich gewesen. Für andere Mitarbeitende, „Anglo-Americans“ wie er, waren die „Indians“ einfach nur „faul, dumm und zurückgeblieben“. Hall dagegen wollte seine Verzweiflung nicht einfach den „Indians“ anlasten, sondern verstehen, wodurch er so irritiert war. Er suchte den Kontakt zu den „Indians“, interessierte sich für deren Kultur und lernte von den Hopis, dass jedes Lebewesen, also auch jedes Tier und jede Pflanze, ein eigenes, inhärentes Zeit­system habe. Welchen Sinn würde es also machen, anderen seine Zeit- und Aktionspläne aufzudrängen? Überhaupt war er fasziniert von der Entdeckung, dass Zeit so völlig anders gesehen und empfunden werden konnte. Zeit sei eben keine „natürliche“ Gegebenheit, sondern ein kulturelles Konzept, das sich in unterschiedlichen Realitäten manifestiere. Diese Erkenntnis ermöglichte ihm, das Verhalten der Hopi und Navajo gelassener zu sehen und sie in ihrer Andersheit zu respektieren. Schließlich gelang es ihm auch, vertrauensvolle Beziehungen zu den „Indians“ aufzubauen und die Projekte voranzubringen. Diese schmerzhaften, aber auch lehrreichen Erfahrungen legten den Grundstein für seine später entwickelte Kultur­theorie, deren zentraler Bestandteil die Zeitsysteme „polychronic time“ oder „P-time“ und „monochronic time“ oder „M-time“ sind:

In polychronen Kulturen seien Kontextbedingungen, soziale Situationen, menschliche Bedürfnisse und Besonder­heiten wichtiger als Zeitpläne und Termine. In monochronen Kulturen dominierten dagegen Zeitpläne und Termine, die Menschen unterwürfen sich dem übergeordneten Zeitregime und würden zu „Sklaven der Zeit“. In polychronen Kulturen ließen sich die Menschen nicht von einer abstrakten, anonymen Zeitdiktatur knechten, sie führten z. B., je nach Situation und Bedarf, verschiedene Aktionen gleichzeitig aus. Dagegen würden in monochronen Kulturen Handlungen aufgeteilt und in einem Ablaufplan geordnet. Hall entwickelt die Theorie der polychronen und monochronen Zeitsysteme nicht systematisch, sondern anekdotenhaft, vieles bleibt diffus und widersprüchlich. Zudem ist seine Darstellung nicht neutral, vielmehr sympathisiert er mit der polychronen Zeit, die natürlich und human sei, während er die monochrone Zeit, die er auch „Maschinenzeit“ nennt, eher negativ sieht. Polychron geprägte Menschen seien human, flexibel, warmherzig, monochron geprägte Menschen dagegen kalt, unmenschlich, unflexibel, maschinenhaft.

Der Theorieskeptiker Hall suchte Erkenntnis nicht um ihrer selbst willen. Theorie sollte nützlich sein. Die Darstellung von P-time und M-time sollte Amerikanern helfen, das „Joch der Monochronität“ abzuschütteln und sich von unbewussten kulturellen Determinierungen zu befreien. Theorien sollten helfen, die eigene Situation zu verbessern. Die Koppelung von Kulturverstehen und Handlungserfolg, insbesondere in professionelle Kontexten, sind der Schlüssel zum Verständnis von Halls Ansatz. Schon während seiner Tätigkeit beim Indian Service beschäftigte ihn die Frage, warum der Widerstand der anglo-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen gegen das Bewusstwerden und Verändern der eigenen monochronen Kultur so massiv war. Der Grund dafür habe vor allem am Fehlen einer geeigneten, anwendungsorientierten und erfahrungsbezogenen Theorie gelegen. In dem Buch Silent Language von 1959, das vielen als Grundlegung des akademischen Fachs Intercultural Communication gilt, legte Hall eine solche Theorie dar. Sie sollte vor allem helfen, sich der unbewussten Strukturierungen durch die eigene Kultur bewusst zu werden. Dazu war die Kontrastierung mit anderen Kulturen erforderlich. Es galt, Bewusstsein zu schaffen für die Tatsache, dass die amerikanische Lebensart nicht universell ist, sondern eine besondere, von M-time dominierte Kultur. Und schließlich sollte die Theorie dazu dienen, den ethnozentrischen Bias aufzulösen.

Hall ging davon aus, dass alle Menschen kulturell determiniert seien, sich dessen aber nicht bewusst seien, was sie zu Gefangenen im eigenen Kulturgefängnis mache. Seine Theorie helfe, sich dieses Zustandes bewusst zu werden und damit die Befreiung aus dem Gefängnis zu ermöglichen. Die Limitierung der eigentlichen menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten durch M-time und andere kulturelle Zwänge sollte aufgelöst werden. Dieser sowohl therapeutische wie gesellschaftskritische Ansatz Halls war von der „culture and personality school“, der zu Halls Zeit dominierenden Strömung in der amerikanischen Kulturanthropologie, beeinflusst. Die Forschungsarbeiten damals führender Anthropologen wie Ruth Benedict, Margaret Mead oder Ralph Linton, dem akademischen Lehrer von Hall, fokussierten auf die persönlichkeitsprägenden Kräfte von Kultur. Das Studium fremder Kulturen diente insbesondere dazu, die eigene Gesellschaft kritisch zu
sehen. Das Aufzeigen alternativer Lebensmodelle sollte das Bedürfnis nach Veränderung schaffen. Dieser kultur- und persönlichkeitsverändernde Impetus findet sich ebenso bei Hall, nur radikaler. Sein Ziel war die generelle Befreiung von kulturellen Limitierungen. Das war wohl auch der Grund, warum international tätige Unternehmen Halls Ansatz so attraktiv fanden, denn sie brauchten Führungskräfte, die im globalen Wettbewerb bestehen konnten. Das Versprechen, kulturelle Limitierungen abschütteln zu können, klang in diesem Kontext recht vielversprechend.

Hall war nicht der Einzige, der sich mit kulturell gerahmten Zeitsystemen beschäftigte. Viele ethnographische Studien beschrieben die kulturell unterschiedlichen Auffassungen von Zeit. Zumeist wurden „primitive“ Auffassungen mit Zeitkonzepten entwickelter Kulturen kontrastiert, wie etwa Edmund Leachs „zyklische“ und „lineare“ Zeit oder Mircea Eliades „heilige“ und „profane“ Zeit. Halls Kontrastierung von M-time mit P-time bezieht sich jedoch vorwiegend auf die moderne, technisierte Welt und insofern war sein Ansatz vielleicht doch einzigartig. Hall sieht polychrone Kulturen in mancher Hinsicht besser als monochrone dafür gerüstet, die Herausforderungen komplexer, global vernetzter, volatiler Gesellschaften und Wirtschaftssysteme zu bewältigen. Insgesamt betont er, dass beide ihre Stärken und Schwächen haben, aber auch, dass beide Systeme sich „wie Öl und Wasser“ zu­einander verhielten. Dieses klare Entweder – Oder verleitete viele Rezipientinnen und Rezipienten dazu, Halls Theorie kulturdeterministisch zu interpretieren, sie sprachen von „monochronen Menschen“ und „polychronen Menschen“. Ob dies Halls Intentionen gerecht wird, ist fraglich. Zwar verwendet Hall die Formulierung „monochrone Amerikaner“, aber in THE DANCE OF LIFE schreibt er: „In a deeper sense, American time is both polychronic and monochronic“. Er führt aus, dass in der öffentlichen, männerdominierten Welt von Politik, Wirtschaft und Sport „M-time“ gelte, in der privaten, frauendominierten Welt dagegen sei „P-time“ vorherrschend. „Polychronic cultures are by their very nature oriented to people. M-time, on the other hand, is oriented to tasks, schedules, and procedures“. In den monochronen Gesellschaften dominiere M-time alle öffentlichen Bereiche, korrumpiere und dehumanisiere die Menschen und entfremde sie ihren natürlichen Bedürfnissen. P-time verkörpere die grundmenschlichen Bedürfnisse und natürlichen Lebensäußerungen, das Partikulare, Zufällige, Nichtplanbare. M-time stehe dagegen für alles Technische, Business- und Effizienzgetriebene, für die Notwendigkeit, zu kalkulieren und zu planen, Risiken auszuschließen und Zufälle zu verhindern. Zu fragen sei daher, wie gut oder schlecht es einem modernen, technisierten, von M-time dominierten System gelinge, den Bedürfnissen der im Grunde polychron geprägten Menschen gerecht zu werden. In den Schriften, die im Kontext seiner Aktivitäten als interkultureller Consultant entstanden sind, geht es im Kern um diese Frage.

Hall konnte auf viele berufliche Erfahrungen in und mit Organisationen zurückgreifen, die ihm seine Beratungs- und Trainingstätigkeiten im internationalen Geschäftsumfeld ermöglichten, ob für Regierungsbehörden bei den Native Americans oder für das Militär in Mikronesien und Europa. Bei allen Tätigkeiten hatte er Probleme mit der monochronen, ethnozentrischen Einstellung seiner amerikanischen Kolleginnen und Kollegen. Auch amerikanische Unternehmen seien blind gegenüber den menschlichen Bedürfnissen der Mitarbeitenden, was zu erheblichen Problemen führe, wenn sie in polychronen Kulturen, etwa in Südeuropa oder Lateinamerika, tätig seien. Polychron geprägte Menschen bevorzugten im Unternehmensalltag eine flexible und umfassende Informationspolitik, gemeinsame Verantwortung und die stete Rückbindung von Einzelaktionen an das organisatorische Ganze. Das würde in monochronen Organisationen in der Planungsphase zwar im Prinzip so gehandhabt werden, aber nicht mehr in der Durchführungsphase, wo Aktivitäten nicht mehr als Ganzes, sondern isoliert behandelt würden und die Verantwortung nicht gemeinschaftlich getragen, sondern Einzelnen angelastet würde. Hall erweckt den Eindruck, als wären seine Ausführungen über den Mangel an Menschlichkeit in M-time Organisationen einsame Rufe in der Wüste. Tatsächlich formulierte aber die Human Relations Bewegung, die zu Halls Zeiten eine wesentliche Rolle in der Organisationsforschung wie auch im Management spielte, eine ganz ähnliche Kritik am harten, menschenfeindlichen Industriesystem. Einer der Initiatoren der Human Relations Bewegung war der Kulturanthropologe W. Lloyd Warner, dessen radikale Kritik an westlicher Gesellschaft und Kultur in seinen Forschungsaufent­halten bei australischen Aborigines begründet ist. Die Ähnlichkeiten mit Halls Ansatz sind deutlich. Überhaupt sind Halls Theorien im kulturanthropologischen Forschungskontext der 1950er und 60er Jahre alles andere als ungewöhnlich oder einzigartig.

Warum Hall die vielen Parallelen mit anderen Kultur­anthropologen nicht gesehen hat, ist schwer zu beantworten. Liegt es an der „weltfremden Theorielastigkeit“, die er dem akademischen Betrieb generell unterstellte, oder an seinem Einzelgängertum, das er in seiner Autobiographie offenbart? Ebenso wäre zu fragen, warum Halls Arbeiten in der damaligen Kulturanthropologie nur am Rande rezipiert wurden. Der Grund dafür dürfte in der Anwendungsorientierung seines Ansatzes liegen, denn in der Kulturanthropologie hat sich im Anschluss an die kritische Aufarbeitung der kolonialen Fachgeschichte eine besondere Skepsis gegenüber jeder Art von Anwendung entwickelt – es sei denn, man engagierte sich für die Inter­essen unterprivilegierter Gruppen.

Auch heute ist die Skepsis gegenüber Halls Ansätzen groß, vor allem in universitären Kreisen des globalen Nordens. Halls Theorien spielen allenfalls bei der Darstellung der Geschichte des Fachs Interkulturelle Kommunikation eine Rolle. Dabei wäre es aufschlussreich, sich eingehender mit Halls anekdotenhaft hergeleiteten, erfahrungsnahen, aber auch inspirierenden Theorien zu beschäftigen. Denn in Universitäten des globalen Südens spielen Halls Theorien in der akademischen Lehre eine wesentliche Rolle. Dabei ist es wohl gerade die dichotom-essentialisierende Konstruktion von P-time und M-time, wie auch Halls gesamter Kulturtheorie (die im globalen Norden zurecht als Fortschreibung einer kolonialen und patriarchalen Attitüde kritisiert wird), die im globalen Süden für die Konstruktion oder Bestätigung einer eigenen kulturellen und nationalen Identität nützlich ist. Hall sieht die Basisbausteine seiner Kulturtheorie, wie etwa P-time, als uranfänglich gegeben. Wenn es Ländern des globalen Südens darum geht, die eigenen kulturellen Besonderheiten gegenüber einer machtvollen und als übergriffig empfundenen „westlichen“ Kultur zu verteidigen, kulturelle Mimikry zu verhindern und die eigene Kultur als wahr und bedeutsam zu legitimieren, dann ist Halls essentialistisches Kulturschema hervorragend dafür geeignet. Es könnte lohnend sein, den Gründen der unterschiedlichen Rezeption von Halls Theorien im globalen Norden und Süden nachzugehen und aus einer kritisch gewendeten postkolonialen Perspektive in den Blick zu nehmen.

Verwendete Schriften von Edward T. Hall:
(1959): The Silent Language. New York: Anchor Books.
(1977): Beyond Culture. New York: Anchor Books.
(1984): The Dance of Life: The Other Dimension of Time. New York: Anchor Books.
(1992): An Anthropology of Everyday Life. An Autobiography. New York: Doubleday.

Prof. Dr. Alois Moosmüller,
Prof. i.R. an der Ludwig-Maximilians-Universität München

E.T. Halls Theorie polychroner und monochroner Zeit revisited
Deutsche Gesellschaft fuer Zeitpolitik
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