Biao Xiang

Schrittgebundenes Leben

Warum geben junge chinesische Berufstätige ihr Recht auf Zeit auf und wie können sie es zurückgewinnen?

Ai, eine 32-jährige Wirtschaftsanwältin in Peking, erzählte
mir, dass sie sich nicht daran erinnern kann, wann sie das letzte Mal in der Sonne spazieren gegangen ist. Sie geht jeden Morgen vor 7 Uhr ins Büro und verlässt die Kanzlei nie vor 20 Uhr abends, auch an vielen Wochen­enden. Wie viele Berufstätige in China ist Ais Recht auf Zeit – das Recht auf geschützte private Zeit und das Recht, mitzubestimmen, wie die eigene Zeit genutzt werden soll – stark eingeschränkt. Das gilt für Handarbeit genauso wie für Kopfarbeit. Einige Technologieunternehmen haben die sogenannte 996-Arbeitszeit (von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends, 6 Tage die Woche) eingeführt, die in einigen Fällen auf das 007-Modell (von Mitternacht bis Mitternacht, sieben Tage die Woche) „aufgerüstet“ wurde. Diese Praktiken verstoßen eindeutig gegen das chinesische Gesetz. Die Kommunistische Partei Chinas verabschiedete 1922 die „Acht-Stunden-Arbeitstag-Resolution“, innerhalb des ersten Jahres ihrer Gründung. Das Arbeitsgesetz von 1994 erhob den Acht-Stunden-Arbeitstag zu einem gesetzlichen Anspruch. Dasselbe Gesetz gewährt Arbeitnehmerinnen einen Mutterschaftsurlaub von mindestens neunzig Tagen, der in vielen Provinzen bis 2025 auf 158 Tage oder mehr verlängert wurde, mit zusätzlichen 15 Tagen Vaterschaftsurlaub. Warum hat dieses fortschrittliche Gesetz das Recht der Arbeitnehmer auf Zeit nicht geschützt?
Was noch rätselhafter ist: Dass viele derjenigen, die am meisten unter den langen Arbeitszeiten leiden, relativ jung (25–45 Jahre alt) sind, gut ausgebildet, gut informiert, als Einzelkinder aufgewachsen und daher sensibel für persönliche Rechte, selbstbewusst und in vielen Lebensbereichen sogar anspruchsvoll. Warum wehren sie sich nicht? Unter den von mir befragten Personen (hauptsächlich Lehrer, Techniker und Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen) scheinen viele an das ausgefüllte Arbeitsleben gebunden zu sein. Xu ist eine Mittelschullehrerin im gleichen Alter wie Ai. Sie stand unter starkem Arbeitsdruck, um die Prüfungsergebnisse der Schüler zu verbessern. Als sie über ihre Sorgen sprach, erwähnte sie jedoch die Freizeit als Problem. „Ich gerate in Panik und fühle mich schuldig während der Ferien, und ich denke immer, ich muss etwas tun. Dann denke ich, was soll ich jetzt tun? Wirklich, ich kümmere mich nicht um die Arbeitsbelastung, solange ich einem klaren Weg folgen kann.“
Es ist schwer vorstellbar, dass jemand wie Xu, die Angst vor Freizeit hat, Freizeit einfordert. Aber ohne eine solche Forderung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wird das Recht auf Zeit, wie jedes Recht, nicht verwirklicht. Junge chinesische Berufstätige können die anstrengenden Arbeitsbedingungen in China stark kritisieren und doch scheinen sie die Entziehung ihres Rechts auf Zeit stillschweigend hinzunehmen. Auf Grundlage meiner Forschung behaupte ich, dass dieses Einverständnis widerspiegelt, wie ihre allgemeine Lebenswahrnehmung – einschließlich der Wahrnehmung dessen, was wünschenswert und was furchterregend ist – sie daran hindert, realistische Maßnahmen zu ergreifen, um Alternativen zu suchen. Daher ist es dringlich, diesen allgemeinen Lebenszustand zu klären, den ich als „schrittgebundenes“ Leben bezeichne.

Wenn man einen Schritt verpasst, kann man alle Schritte verpassen

Ein schrittgebundenes Leben ist eine spezifische Vorstellung vom Leben. In dieser Vorstellung verpasst man alles, wenn man einen Schritt verpasst. Es wird keine Chance geben, den Verlust später auszugleichen. Dies erklärt, warum Eltern in China bereits im Kindergarten in die Bildung ihrer Kinder investieren – um zu vermeiden, „am Start (des Rennens) zu verlieren“. Ich kenne mehr als eine Vorschul-Nachhilfeagentur in China, die sich „Die Startlinie“ nennt. Es wird allgemein angenommen, dass die Qualität der Grundschule, die ein Kind besucht, die Qualität seiner/ihrer weiterführenden Schule erheblich beeinflussen wird, was wiederum seine/ihre Chancen auf den Besuch einer qualitativ hochwertigen weiterführenden Schule, Universität und Firma beeinflussen wird.
Diese Vorstellung ist im Allgemeinen zutreffend und wurde wiederholt bestätigt. Zum Beispiel gibt es das sogenannte „Phänomen des 35. Lebensjahres“, wonach man bis zum 35. Lebensjahr eine bestimmte Station erreicht haben muss, wenn man jemals erfolgreich sein möchte. Eine solche Idee – die in allen Berufszweigen weit verbreitet ist – sendet eine erschreckende Warnung über die Folgen des Verpassens kritischer Schritte im Karriereverlauf. Ein Magazinartikel über Karrieren im öffentlichen Dienst kommentiert: „Wenn du mit 35 Jahren nicht den Rang Ke erreichst (in der Regel der Leiter eines kleinen Büros mit 2–5 Mitarbeitern), ist deine Zukunft vorbei; wenn du bis 45 noch nicht die Schwelle zum stellvertretenden Chu überschritten hast (Leiter einer Abteilung mit 5–20 Mit­arbeitern), bleibst du höchstwahrscheinlich dein Leben lang dort stecken; und wenn du mit 50 immer noch auf der Ebene des vollen Chu verharrst, solltest du besser über eine Exit-Strategie nachdenken.“
An Universitäten sind die Karrierechancen düster, wenn man es nicht schafft, bis zum 35. Lebensjahr in den Tenure-Track zu gelangen. Im privaten Sektor – insbesondere in der IT-Branche – steigt die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, dramatisch, sobald man das 35. Lebensjahr überschreitet. Einige führen den „Fluch der 35“ auf den Wettbewerb zurück: Da so viele Menschen um Arbeitsplätze konkurrieren, warum sollte der Arbeitgeber nicht die Jüngeren auswählen? Junge Mitarbeiter sind begehrt, weil sie tendenziell gehorsamer, flexibler, lernwilliger sind und als schneller lernend gelten. Sie sind auch eher ledig und können 10 Stunden am Tag im Büro bleiben. Schließlich (und wahrscheinlich am wichtigsten für den Arbeit­geber) soll die Altersgrenze die „wirklich Fähigen“ von den weniger Fähigen unterscheiden. Wie mir ein Technopreneur sagte, sind in seiner Ansicht diejenigen, die sich vor dem 35. Lebensjahr auszeichnen, diejenigen mit echtem Potenzial und sollten als Hauptstütze des Unternehmens gehalten werden. Der Rest ist entbehrlich und sollte entlassen werden, solange immer man jüngere Mitarbeiter finden kann.
In einer starren Schrittfolge gefangen zu sein bedeutet auch, dass auf einen erfolgreichen Schritt stets ein weiterer folgen muss, der zu noch größerem Erfolg führt. Andernfalls gilt das Abweichen von einem erfolgreichen Weg und das Ausprobieren von etwas anderem manchmal als „verantwortungslos“. Viele junge Chinesinnen und Chinesen fürchten, was passieren könnte, wenn ihre Eltern sehen, dass sie einen „Rückschritt“ (tuibu) machen. Wie Su, eine junge Berufstätige, erklärte: „Es ist sehr schwierig, wenn dein glänzender Aufstieg plötzlich ins Stocken gerät oder eine unerwartete Wendung nimmt.“ Su kündigte vor zwei Jahren gegen den Willen ihrer Eltern ihren sicheren Job in einer Anwaltskanzlei. „Eltern können das nicht verkraften. Meine Eltern haben immer noch das Gefühl, dass sie meinetwegen das Gesicht verloren haben [unter Freunden und Verwandten].“ Ihre Eltern fragten sie, was schiefgelaufen sei: „Du warst früher das beste Kind, als du jung warst [im Vergleich zu anderen Kindern von Verwandten und Kollegen]. XXs Kind war viel schlechter als du, aber schau, was er jetzt erreicht hat.“ Am Anfang erzählten ihre Eltern anderen, dass Su nach Hause gekommen sei, weil sie während der COVID-Pandemie auf Telearbeit umgestiegen sei. Als die Pandemie endete, weigerten sich ihre Eltern, mit ihr im Wohnkomplex spazieren zu gehen, aus Angst, sie müssten den Nachbarn erklären, warum ihre Tochter immer noch da sei.
Ein schrittgebundenes Leben wird aus Angst vor Reue verinnerlicht. „Es darf nicht passieren, dass ich in Zukunft einen Schritt bereue.“ Dies ist eine häufige Erklärung meiner Gesprächspartner und -partnerinnen, warum sie so vorsichtig planen müssen, welchen Schritt sie zu welchem Zeitpunkt unternehmen. Reue ist wohl eine der schmerzhaftesten menschlichen Erfahrungen und die Angst vor zukünftiger Reue prägt die Handlungen in der Gegenwart. Dies führt wiederum zu einer Katastrophenmentalität: eine Denkweise, bei der jeder kleine Fehler später zu Katastrophen führen könnte. Meine Gesprächspartner und -partnerinnen führen dies auf das, was allgemein als „die sehr geringe Fehlertoleranzrate in der Gesellschaft“ bezeichnet wird, zurück. Sie haben das Gefühl, dass der Spielraum für Fehler in der Gesellschaft so gering ist, dass man nie eine zweite Chance hat.

Der Kontext des schrittgebundenen Lebens: Komprimierte, inklusive, wettbewerbsfähige und straff organisierte Entwicklung

Warum ist der Spielraum für Fehler in der chinesischen Gesellschaft so eng geworden? Das schrittgebundene Leben ergibt sich aus einer Reihe von Merkmalen der rasanten Entwicklung Chinas, die wiederum historisch bedingt sind.
Erstens war Chinas rasante wirtschaftliche Entwicklung nach den 1980er Jahren ein hochkomprimierter Prozess, eine Fortsetzung der Suche Chinas nach Modernität, die im späten 19. Jahrhundert begann. Schockiert von den Opiumkriegen (1840er Jahre) und angesichts der Gefahr, von fremden Mächten geteilt und besetzt zu werden, waren die chinesischen Eliten entschlossen, mit außergewöhnlichen Mitteln aufzuholen. Der Sozialismus sollte ein großer Sprung nach vorne sein und die Entwicklungsstufen überspringen, die der Westen durchlaufen hatte, um schnell gleichwertig zu werden. Als in den 1980er Jahren die Führung entschied, dass der Sozialismus kein wirk­sames Mittel zur Erreichung einer komprimierten Entwicklung war, startete die Kommunistische Partei ihre marktorientierten Reformen. „Zeit ist Geld, Effizienz ist Leben“ war einer der ersten Slogans, die an die Wände geschrieben wurden, um frühere revolutionäre Parolen zu ersetzen. Dieses historische Dringlichkeitsgefühl, das in der offiziellen Ideologie verankert ist, übersetzt sich in die individuelle Lebenswahrnehmung: Man sollte immer aktiv planen und Initiativen im Leben ergreifen, anstatt einfach nur zu folgen. Diese energiegeladene Lebens­weise neigt dazu, einseitig zu sein: Die Menschen werden ermutigt, ihre Energie auf ein einziges Ziel zu konzentrieren und andere Bedürfnisse wie Ruhe, Freundschaft und sogar die eigene Gesundheit zu unterdrücken. In einer verdichteten Ökonomie ist ein hohes Entwicklungstempo nicht nur erwünscht, sondern auch notwendige Problemlösung. Chinesische Offizielle erinnern die Bevölkerung immer wieder daran: Schwierigkeiten, die im Verlauf der Entwicklung entstehen, lassen sich nur durch eine weitere Beschleunigung der Entwicklung lösen.
Zweitens ist Chinas Entwicklung, obwohl sie die Ungleichheit schnell vergrößert, immer noch inklusiv. Als China Ende der 1970er Jahre mit seinen Reformen begann, waren die meisten Bürger gleichermaßen arm, aber dank der relativ egalitären Bildungs- und Gesundheitsversorgung während der sozialistischen Ära auch gleichermaßen versorgt . Jeder stand an derselben Startlinie. Auch aufgrund ihrer gemeinsamen sozialistischen Ideale glaubten alle, dass sie berechtigt waren, an der nationalen Entwicklung teilzunehmen und davon zu profitieren. Die Tatsache, dass die frühesten Nutznießer der Reform diejenigen in Randpositionen waren, wie Bauern und arbeitslose Jugendliche, vermittelte die starke Botschaft, dass jeder es schaffen kann, solange er hart arbeitet. Die Inklusivität der Entwicklung wurde auch institutionell durch den Ausbau der sozialen Wohlfahrt aufrechterhalten. Bis Ende 2015 waren mehr als 95 % der chinesischen Bürger krankenversichert. Der Umfang der Leistungen bleibt zwar gering, doch verhindert er, dass große Teile der Bevölkerung von der nationalen Wirtschaft ausgeschlossen werden.
Wenn 1,4 Milliarden Menschen denselben Traum in einer komprimierten, marktorientierten Entwicklung verfolgen, führt dies natürlich zu einem heftigen Wettbewerb. Im schrittgebundenen Leben wird durch den Vergleich mit anderen definiert, was ein richtiger Schritt ist – welchen Schritt man zu welchem Zeitpunkt machen muss. Wenn alle diesen Schritt machen, muss man ihn auch machen, und man sollte immer versuchen, den Schritt vor anderen zu machen. Wettbewerb an sich ist nichts Bemerkenswertes, aber was den Wettbewerb in China ungewöhnlich macht, ist, dass er straff organisiert ist. Wettbewerb entsteht nie spontan horizontal zwischen Individuen. Vielmehr erfordert Wettbewerb eine Autorität, die Kriterien festlegt, urteilt, Regeln durchsetzt und Belohnungen vergibt. Er ist daher vertikal organisiert. Der Wettbewerb in China ist in dem Sinne straff organisiert, dass die Wege zu einem wünschenswerten Leben begrenzt und eng sind. Es wird immer seltener, dass jemand erreicht, was er will, indem er einen neuen Weg einschlägt, zum Beispiel eine erfolgreiche Karriere ohne Universitätsabschluss. Der Wettbewerb in China ist auch durch hochsichtbare und nahezu universelle – wenn auch nicht immer explizite – Differenzierungskriterien straff organisiert. Menschen vergleichen sich – und werden verglichen – mit Klassenkameraden, Kollegen und sogar Freunden anhand von akademischen Leistungen, Arbeitsleistungen, Einkommen, Vermögen oder Status.
Das sozialistische Erbe hat – trotz des Verbots von Konkurrenz um individuelle materielle Vorteile – ein ausgefeiltes und höchst wirksames Instrumentarium hervorgebracht, das Individuen zum Zweck der politischen Mobilisierung differenzierte; etwa durch die Einteilung von Beschäftigten in „Arbeitsvorbilder“, „fortgeschrittene Elemente“ und „rückständige Elemente“.
Während diese Titel in der Reformära obsolet wurden, hat sich die allgemeine Methode, Individuen durch Differenzierung, Belohnung und Beschämung zu motivieren, in verschiedenen Institutionen weiter verfestigt. Schließlich wird der Wettbewerb durch die strenge Regulierung des individuellen Lebens – insbesondere von Berufstätigen – straff organisiert. Das Bildungssystem ist ein typischer Fall. Der Staat kontrolliert, welche Inhalte die Schüler lernen, welche Prüfungen sie ablegen und welche Konsequenzen ihre Erfolge oder Misserfolge haben. Ein Beispiel: Der völlig banale Status der „frischen Hochschulabsolventen“ – jeder Hochschulabsolvent beginnt als frischer Hochschulabsolvent – ist jetzt etwas, das die Absolventen einkalkulieren müssen, da Arbeitgeber frische Hochschulabsolventen denen vorziehen, die ein Jahr früher abgeschlossen haben. Dies liegt teilweise daran, dass Unternehmen glauben, neue Absolventen seien leichter zu managen, aber die Regierung übt auch Druck auf Unternehmen aus, „frische“ Absolventen zu bevorzugen, um den Eindruck zu erwecken, dass die meisten Hochschulabsolventen Jobs finden. Inzwischen wird die Arbeitslosigkeit „älterer“ Absolventen als weniger brisant angesehen und daher ignoriert. Unabhängig von den Gründen ergibt sich die klare Wirkung, dass frische Absolventen sich bemühen müssen, erfolgreich zu sein, bevor sie zu „ehemaligen Absolventen“ werden.

Ausstieg oder Seitenwechsel

Der Druck, der mit dem schrittgebundenen Leben verbunden ist, wird noch größer, wenn das Wirtschaftswachstum nachlässt – ein Trend, der seit 2015 offensichtlich geworden ist. Junge chinesische Berufstätige konkurrieren jetzt härter um abnehmende Chancen, während gleichzeitig die tatsächlichen Erträge aus dem Wettbewerb sinken. Als Reaktion darauf haben einige das System „verlassen“. Sie kündigen Jobs bei großen Unternehmen, ziehen in Gegenden mit niedrigen Kosten, probieren neue Lebensstile als Bauern, Ladenbesitzer, digitale Nomaden aus oder werden einfach für eine Weile arbeitslos. Der Ausstieg ist jedoch eine sehr kostspielige Strategie. Nur wenige können es sich leisten und diejenigen, die es tun, stehen oft unter starkem Druck ihrer Familien. Und weil das schrittgebundene Leben so verinnerlicht ist, fühlen sich diejenigen, die „aussteigen“, möglicherweise verloren. Ke, ein 26-jähriger Mann, kündigte seinen Job in einer anspruchsvollen Position in einer öffentlichen Einrichtung (eine Zeit lang musste er im Büro schlafen), um sich auszuruhen und seine Gesundheit zu erholen. Er stellte fest, dass ihm die freie Zeit Angst machte. „Meine Ausbildung hat mir die Gewohnheit gegeben, wie eine Maschine zu handeln.“ Ke reflektiert: „Ich will immer Stunden vom Schlaf sparen, ich denke immer, wie ich mehr lernen und mehr arbeiten kann.“ Berufstätige wie Ke sind nicht nur des Rechts auf Zeit beraubt, sondern auch der Fähigkeit, freie Zeit zu nutzen.
Im Vergleich zum Ausstieg könnte eine Strategie des „Seitenwechsels“ realistischer sein. „Seitenwechsel“ bedeutet, dass eine Person die Fähigkeit entwickelt, freie Zeit zu finden, zu schützen und zu nutzen, wann immer dies möglich ist, ohne das System ganz zu verlassen. Einige junge chinesische Berufstätige tun genau das. Sie schützen ihre freie Zeit, indem sie sie mit Aktivitäten wie der Organisation von Stadtspaziergängen, der Einrichtung experimenteller Theater, der Teilnahme an Lesegruppen und dem Filmen ihrer Nachbarschaft füllen. Eine Gesprächspartnerin entschied sich, bei der Bewerbung um Jobs die Pendelzeit von zu Hause aus auf 30 Minuten zu begrenzen. Auf diese Weise möchte sie mehr freie Zeit gewinnen. Diejenigen, die Schritte zur Seite machen, scheinen eher in der Lage zu sein, ihr schrittgebundenes Leben zu verhandeln; zum Beispiel, indem sie Beförderungsanträge verschieben oder sich von berufsbezogenen Wettbewerben fernhalten. Der Schlüssel zum Seitenwechsel besteht darin, soziale Beziehungen zu pflegen, Aktivitäten zu initiieren und sogar physische Räume abzugrenzen (zum Beispiel den täglichen Pendelradius).
Diese Aktivitäten sind wichtig, da sie konkrete Bedingungen schaffen, unter denen Menschen ihre freie Zeit sinnvoll nutzen, die Anziehungskraft dessen erfahren, was das Recht auf Zeit dem Leben verleiht, und hoffentlich das Vertrauen entwickeln, das nötig ist, um dieses Recht in Zukunft einzufordern.

Prof. Biao Xiang,
Direktor des Max-Planck-Instituts
für Sozialanthropologie in Halle

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